Presseerklärung

Erklärung der Ständigen Vertretung der Straßenkinder

in Deutschland zur Vodafone-Studie
„Deutschlands vergesse Jugendliche“
Bezugnehmend auf die jüngst veröffentlichte Studie des Deutschen Jugendinstitutes im Auftrag der Vodafone Stiftung Deutschland, dass 21.000 Jugendliche ohne Wohnung, Ausbildung und Hilfe in Deutschland auf der Straße leben, stellen wir als betroffene Jugendliche fest, dass sich die gesamte Jugendhilfe in Deutschland in einer existentiellen Krise befindet und zu befürchten ist, dass das staatliche Hilfesystem kollabiert.

Die Landesjugendämter beschreiben auf drastische Weise einen ständigen Anstieg der Jugendhilfeausgaben, bei einer immer schlechteren Erreichbarkeit von uns und anderen, die als junge Menschen unbedingt die Hilfe der Gesellschaft benötigen. Wir halten die Schlussfolgerungen, die aus der Vodafone-Studie abgeleitet werden, für nicht ausreichend und für zu kurz gegriffen. Die Forderungen wiederspiegeln in ihrer Gesamtheit die bereits unternommenen Bemühungen der Jugendhilfe­landschaft, die Reparaturcharakter haben. Es bedarf einer tiefgehenden Analyse des Zustandes der Jugendhilfe und seiner Subsysteme, hier insbesondere einer Untersuchung der mächtigen Wirkung der Jobcenter und der Hartz IV-Gesetzgebung auf unser Leben.

Wir empfehlen vielmehr dem Bundesjugendministerium und den kommunalen Jugendämtern, uns sowohl in der konkreten Hilfemaßnahme wie auch bei der Konzeptionierung der Hilfeformate endlich direkt einzubeziehen!
Zugleich ist die Kopplung von Jugendhilfe an die Erbringung von Leistungen durch uns, als Voraussetzung zur Aufnahme der Hilfe, nicht zielführend. Viele der Forderungen überfordern uns in unserer Lebenssituation, die oft von elterlicher Missachtung, von Gewalterfahrungen und Missbrauch geprägt ist. Das lässt uns in den Hilfeprozessen regelhaft scheitern. In der Konsequenz unterstellt man uns die fehlende Mitwirkung und bricht die Hilfe ab.

Zugleich sind viele der Hilfeprodukte der freien und staatlichen Jugendhilfe voller Bestrafungsmodule und -rituale, sind übervoll mit Regeln, die einen freiheitsberaubenden Charakter tragen. Es ziehen pädagogische Konzepte ein, die belohnenden Charakter haben sollen aber in Wirklichkeit die Entkopplung von uns durch ein weiteres aussortieren unter uns fördern. Die ganz „bösen Kinder“ kommen dann mit richterlichem Beschluss in geschlossene Heime der Jugendhilfe. In einigen Jahrzehnten dann wird man uns wohl aus einem Entschädigungsfond Geld zahlen wollen, weil man festgestellt hat, dass Zwang gleich Gewalt ist.
Das sind die wahren Gründe, weswegen wir uns zusehends nicht mehr an das Jugendamt wenden.

Die Öffentlichkeit hat keinen Einblick in das eher intransparente Jugendhilfesystem und reagiert mit Unverständnis uns gegenüber. Viele sind der Meinung, dass wir freiwillig das Leben ohne Wohnraum, das Leben auf der Straße und in zwanghaften Beziehungen, mit Alkohol und Drogen, dem Leben mit Schule, in Geborgenheit und mit Pflichten vorziehen. Das macht uns traurig und wütend. Wir sind als Kinder und Jugendliche zu den Verlierern unserer Gesellschaft gemacht worden. Viele von uns können nicht auf eine fördernde, beschützende, liebevolle Familie zurückgreifen. Unsere uns prägenden Erfahrungen heißen Gewalt, sexueller Missbrauch, psychisch kranke und alkoholabhängige Eltern, Eltern ohne Ressourcen einer liebevollen eigenen Erziehung und Eltern in Armut, die wir als Kinder aber trotzdem lieben.

Mit der 2. Konferenz der Straßenkinder in Deutschland, die vom 25. bis 26. September 2015 in Berlin stattfinden wird und an der mehrere hundert „vergessene, entkoppelte Jugendliche“ direkt von der Straße und aus Notschlafstellen teilnehmen werden, setzen wir den Dialog mit der Politik fort, den wir mit der 1. Bundekonferenz der Straßenkinder 2014 begonnen haben. Das die Bundesjugendmi­nisterin Manuela Schwesig und der Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung, Thomas Krüger persönlich an dieser Konferenz teilnehmen werden, stimmt uns hoffnungsvoll.

Unsere Analyse aus der 1. Konferenz der Straßenkinder 2014 und unsere Ideen und Forderungen für eine bessere Jugendhilfe in Deutschland verweisen darauf, das es dringend notwendig ist, eine Jugendhilfereform einzuleiten, die sich an dem US-amerikanischen housing first-Modell orientiert, dass inzwischen auch in Dänemark flächendeckend sehr erfolgreich praktiziert wird. Diese Herangehensweise ist erfolgreicher, wirkt nachhaltig, übt keinen Zwang aus, ist demokratisch und spart sehr viel Geld.

Helfen Sie uns unbürokratisch und schnell, unsere Existenz zu sichern, stellen sie uns Wohnraum zur Verfügung und koppeln sie keine Voraussetzungen daran. Der Weg einer „Wohnbefähigung“ über verschiedenste Etappen, von der Notschlafstelle, über die betreute Jugend-WG hin zur eigenen Wohnung, einhergehend mit der Beendigung der Jugendhilfe ist nicht erfolgreich und zermürbt uns. Ermöglichen Sie uns, dass wir freiwillig um weitergehende psychosoziale Hilfe bitten dürfen und schließen sie die „Geschlossenen Heime“ in Deutschland, in der einige von uns mit Zwang und gegen unseren Willen untergebracht werden. Hier erleiden wir Erniedrigung.
40 Jugendliche im Alter von 16 bis 29 Jahre der Ständigen Vertretung der Straßenkinder in Deutschland und des Justus Delbrück Hauses, der Akademie für Mitbestimmung

Jörg Richert im Auftrag,
Mitglied der Pressesprecher der Ständigen Vertretung der Straßenkinder in Deutschland,
Geschäftsführer des KARUNA Zukunft für Kinder und Jugendliche in Not International e.V.
0177 22 18 432

Presseerklaerung.15.Juni2015-PDF