In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

In Ahlbeck am Stettiner Haff ist etwas Schlimmes passiert
oder
In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich Leben?

Anfang August haben drei Jugendliche (15, 17 und 18 Jahre alt) einer therapeutischen Jugendwohngemeinschaft aus Berlin, die hier mit anderen aus ihrer Jugend-WG die Ferien verbringen wollten, eine Gruppe von fünf Jugendlichen aus Ahlbeck in Mecklenburg Vorpommern beim Spaziergang durch die Gemeinde ohne Anlass angegriffen. Sie wollten ihnen Wertgegenstände abnehmen, haben sie geschlagen, haben ein Fahrrad zerstört und ein Mädchen mit einer Eisenstange attackiert. Das Mädchen ist dabei am Ohr verletzt worden. Die Täter wurden von der schnell eintreffenden Polizei festgenommen und verhört. Die schwere Straftat ist angezeigt und wird hoffentlich bald vor dem Gericht verhandelt um die jugendlichen Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Die nicht beteiligten Jugendlichen der therapeutischen Wohngruppe, die SozialarbeiterInnen, das Team von PsychologInnen, ErzieherInnen und TherapeutInnen, des  Jugendhilfeträgers KARUNA aus Berlin, die Vermieter des Feriendomizils, sie alle sind  erschüttert, enttäuscht und traurig. Der Schläger mit der Eisenstange ließ sich freiwillig in die Kinder- und Jugendpsychiatrie einweisen. Die Wohngemeinschaft hat das verletzte Mädchen und deren Eltern besucht und sich, soweit es möglich ist, für die Tat entschuldigt. Die Familie und das Mädchen haben die Entschuldigung zögerlich annehmen können. Auch andere Wiedergutmachungsversuche sind auf dem Weg, doch zurück bleibt ein schlimmes Erlebnis und Angst, auch für die Bewohner der Gemeinde am Stettiner Haff.

Alle drei Jugendlichen leben in einer therapeutischen Wohngemeinschaft der Jugendhilfe und arbeiten an der Aufgabe, ihre eigenen, mitunter schweren traumatischen Erlebnisse ihrer Kindheit zu verarbeiten. Wir ersparen uns Details dieser traurigen Biografien, die genauso erschütternd sind, wie die Tat der ehemaligen Opfer, die an jenem Tag im August 2018 zu Tätern wurden.

Um die Tat aber, für die es augenscheinlich keinen Anlass gab, einzuordnen, sollten wir versuchen, alles zu verstehen, auch das, was man umfassender als unsere Gesellschaft beschreibt. Wissen wir wohin innerfamiliäre Gewalt an den eigenen Kindern im späteren Leben führen kann? Die Mehrheit dürfte inzwischen körperliche Gewalt als Methode der elterlichen Erziehung ablehnen und sie zur Anzeige bringen. Wie aber ist es mit der emotionalen Vernachlässigung, mit Unterdrückung, mit psychischer Gewalt? Überlegen Sie einen Moment! Kennen Sie wirklich kein Kind, dass in Ihren Umfeld davon betroffen ist? Wirklich nicht? Und Sie, wie war das bei Ihnen zuhause, als sie ein Kind waren?

Ich möchte im Namen der KollegInnen aller Jugendhilfeeinrichtungen und der MitarbeiterInnen aller Jugendämter den LeserInnen dieses Artikels eine Frage stellen mit der wir täglich konfrontiert sind:

In welcher Gesellschaft wollen wir morgen leben wenn im Jahr 2017 bundesweit: 13.539 Kinder unter 18 Jahren sexuell missbraucht (zumeist innerhalb der eigenen Familie) und 4.208 Kinder misshandelt wurden, 21.000 minderjährige Straßenkinder in den Großstädten vor der Gewalt ihrer Eltern abgetaucht sind, insgesamt 80.000 Kinder und Jugendliche bis zum 21. Lebensjahr obdachlos auf der Straße leben und 143 Kinder getötet wurden?

In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich wenn zudem ein drittel aller Bundesbürger in ihrer Kindheit körperliche und emotionale Gewalt erfahren haben? Damit sind 27 Millionen BürgerInnen betroffen. Der emotionalen Gewalt an Kindern wird kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei handelt es sich um ständige Kränkungen, sinnlose Verbote, Ausgrenzung, Desinteresse und emotionale Kälte, der sie (oder besser: wir?) durch die eigenen Eltern ausgesetzt sind (waren). Diese Kinder leiden unter Schlafstörungen, können sich nicht konzentrieren, werden depressiv oder aggressiv. Die Auswirkungen dieser psychischen Gewalt haben fatalen Einfluss auf die Gehirnentwicklung und üben Einfluss auf den späteren Charakter eines Menschen aus. Mit Aggression gegen sich selbst oder gegen andere reagiert das Kind auf jede Art von Bedrohung. Das Umfeld reagiert mit Unverständnis, weil für „uns“ keine Bedrohung zu erkennen ist. Dabei handelt es sich nicht um einen willkürlichen Gewaltimpuls, der keine Ursache hat. Wir können nur  nicht „sehen“, nicht nachvollziehen, was für einen Menschen mit Gewalterfahrung bedrohlich wirkt.

Psychiater sprechen von den Narben im Gehirn und wissen, dass emotionale Gewalt dazu führt, dass diese Menschen Stress nicht bewältigen können und Gefühle nicht einzuordnen wissen.

Stellen sie sich vor, sie könnten Ihren eigenen Gefühlen nicht trauen und das niemals! Diese Bindungsunsicherheit garantiert ein Leben in ständiger Alarmbereitschaft. Die eigene Unsicherheit und das Sozialverhalten werden dann an die eigenen Kinder weitergegeben. Psychologen sprechen von einem transgenerativen Trauma und die Epigenetik konnte beweisen, dass die Gewalterfahrungen im Genom, also im Erbgut „abgelegt“ werden.

 Der Apfel fällt ja nicht weit vom Stamm und aus seinen Früchten würden wieder die gleichen Bäume wachsen…

 wenn da nicht wir wären, die helfen und diesen Familien und ihren Kindern die Hand reichen. Zu jeder Zeit in jedem Alter können wir uns verändern, wenn wir gute emotionale Erfahrungen machen dürfen. Wenn wir dazu eingeladen werden, sichere, dauerhafte emotionale Beziehungen aufzubauen und psychosoziale therapeutische Hilfe zu bekommen.

Das alles aber kann die Jugendhilfe nicht allein leisten, weil sie keine dauerhaften emotionalen Beziehungen garantieren kann.

Wir brauchen Sie, die Zivilgesellschaft dazu! Investieren Sie Herzenswärme und versuchen Sie zu verstehen, warum Jugendliche, die selbst Opfer von Gewalt wurden, ein hohes Risiko in sich tragen, sich selbst oder andere zu verletzen. Wer andere verletzt geht zu weit und wird sich vor dem Gesetz verantworten müssen. Zugleich aber braucht er unsere Hilfe, damit es morgen oder in der nächsten Generation nicht neue Opfer gibt. Wir können die körperliche und emotionale Gewalt stoppen, mit Ihrer Hilfe!

In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

KARUNA-KOMPASS, Zeitung aus einer solidarischen Zukunft

Nachdruck und Verbreitung erlaubt und erwünscht!

Schreiben Sie uns, wenn Sie dazu eine Meinung haben! karunadeutschland@googlemail.com
und lesen Sie
www.karuna-kompass.de

Jörg Richert

Mitgründer des KARUNA Zukunft für Kinder und Jugendliche in Not Int. e.V. und der KARUNA eG – die Sozialgenossenschaft mit Familiensinn

(Fakten aus: Bundesstatistik/ Studie des DJI/ Vodafone Stiftung/ohne Dunkelziffern außer bei Tötung).